Die Bayreuther Festspiele sind kurz, aber sie sind länger als nur eine Premierenwoche. Die ist vorbei – was man übrigens auch beim Publikum merkt, das deutlich entspannter unterwegs ist, vom Ärger übers hässliche Wetter einmal abgesehen. Aber auch hinter den Kulissen entspannt sich die Lage. Der Premierenstress ist abgebaut, die Prominenz weg, der Kreis der Kritiker zum Großteil aufgelöst. Jetzt schnaufen die Mitwirkenden erstmal durch. Und darum wollen wir an dieser Stelle die Nicht-Premieren betrachten. Teil eins: Der Ring des Nibelungen, der am 5. August 2023 startete. Mit Rheingold, erster Abend des Bühnenfestspiels von Richard Wagner.
Die Zwillinge Wotan und Alberich
An den Anfang, zum leise sich steigendernden Rhein-Rauschens aus dem Orchestergraben, hat Regisseur Valentin Schwarz ein Video gesetzt. Zwillings-Embryos schweben in der Dunkelheit, es sind Wotan und Alberich, die sich in dieser Lage schon in herzlicher Abneigung zugetan sind, bei der Umarmung fließt Blut. Ein Auge ist kaputt. Daher also Wotans Klappe, die er übrigens nicht tragen wird, sondern nur eine Narbe am Kopf hat.
Hier könnte sich ein Problem zeigen, wenn die Festspiele ihre Strategie fortfahren, den Ring auch als Einzelstücke zu verkaufen. Zuschauer, die sich nur ihren persönlichen „Favoriten“ gönnen – in der Regel sind das Walküre oder Götterdämmerung – bekommen nicht die ganze Geschichte mit. Deshalb ist der Einzelverkauf als Ausnahme sicherlich eine gute Idee und die bessere Alternative zu leeren Plätzen. Dank des kurzfristigen Projekts „Wagner for starters“ kommen in diesem Jahr zudem junge Leute zum Zug, die sich „so etwas“ einmal anschauen wollen, sich das in der Regel aber nicht leisten könnten.
Problem Einzelverkauf des “Ring”
Insgesamt aber, am Ort, den der Komponist zur Aufführung seines „Ring“ gebaut hat, kann das Zerreißen in einzelne Teile eigentlich nicht Zukunft und Programm sein. Hätte Richard Wagner vier einzelne Stücke gewollt, hätte er sie auch so komponiert. Und ein Regisseur/eine Regisseurin wird sich schwertun, das Werk stringent als großes Ganzes zu inszenieren. Das Prinzip Netflix-Serie, wie sie der aktuelle Ring-Regisseur Valentin Schwarz umsetzt, müsste dem Prinzip “Daily Soap” weichen, in der der Einstieg immer möglich ist.
Jedenfalls ist der Auftakt für den zweiten Ring gemacht. Das Publikum ist zufrieden, kein Buh erschüttert den Saal, sondern großer Jubel. Vor allem auf sängerischer Seite bleibt kein Wunsch offen und zwar in allen Partien. Das ist insgesamt eine große Stärke in diesem Jahr bei den Bayreuther Festspielen. Tomasz Konieczny startet kraftvoll in den zweiten Ring, in dem er alle drei Wotan/Wanderer-Partien singen kann, womit er sich offensichtlich sehr wohl fühlt. Er zeigt sich sängerisch kraftvoll und dazu darstellerisch hervorragend als dominanter Göttervater. Ihm ebenbürtig ist eine großartig dramatische Christa Mayer als Fricka. Der Auftritt von „Erda“ Okka von der Damerau ist kurz, aber prägt sich als prachtvoll mahnend ein. Olafur Sigurdarson als Alberich macht Lust auf die nächsten Abende, Arnold Bezuyen, der an diesem Abend hinter dem Vorhang für seine 200. Vorstellung bei den Bayreuther Festspielen geehrt wird, wie er auf Facebook schreibt, macht als Mime eine wunderbare Figur. Selbst die vermeintlich kleineren Partien sind edelst besetzt: Die Riesen Fasolt und Fafner, Jens-Erik Asbo und Tobias Kehrer, sind jeder für sich eine tief drohende Wucht, Hailey Clark eine herrlich verzweifelte Freia, die sich nach dem Verkauf an die Riesen sichtlich traumatisiert die Kugel gibt. Daniel Kirch zeigt sich auch stimmlich als perfekter Begleiter von Wotan. Und selbst die verhältnismäßig kurzen Auftritte von Raimund Nolte als Donner und Attilio Glaser als Froh sind eine wahre Freude.
Hervorragende Sänger-Auswahl
Wundervoll abgestimmt zeigen sich in diesem Jahr auch die drei Rheintöchter: Evelin Novak, Stephanie Houtzeel und Simone Schröder hüten zu Beginn eine fröhliche Kinderschar im Pool und lassen den armen Alberich als begossenen Pudel im wahrsten Sinne des Wortes dastehen. Der rächt sich und nimmt ein Kind mit, einen Außenseiter, der die Wasser-MP zückt und damit schon Potenzial für einen späteren Bösewicht zeigt.
Das ist der Regie-Ansatz: Kinder sind das Gut, das es sich zu stehlen lohnt, weil sie die Zukunft sind. Das ist das „Rheingold“, das Alberich mitnimmt und das Wotan und Loge ihrerseits ihm später in Nibelheim entwenden. Nibelheim, das ist ein Hort für sehr brave und hübsche Mädchen. Nur ein junger Knabe darf sich nach Lust und Laune aufführen, hier wächst ein Empathie-loses Früchtchen heran. Als Alberich seinen Besuchern zeigt, wie er sich dank des „Rings“ zur Schlange wandelt, ballert er zusammen mit dem Buben voller Lust mit einer aufgestellten MP durch die Gegend. Keine Angst vor Waffen.
Das Ende der Götter ist sichtbar
Es darf aber auch gelacht werden im Festspielhaus: Als Froh mit dem Golfschläger etwas wegkicken will (was, ist ohne Opernglas leider nicht zu erkennen, vielleicht einen von Freias Äpfeln), bekommt er es plötzlich mit dem Rücken zu tun. Es darf gelacht werden auf den harten Stühlen. Und Götter, die es mit dem Rücken haben, scheinen sehr offensichtlich ihrem Ende zuzugehen.
Man darf aber auch nicht übersehen, dass der Festspiel-Zuschauer in der Regel das Stück nur einmal genießt und der erste Eindruck sitzen muss. Da können zu viele Details stören. Um dem zu entgehen, empfiehlt sich der durchaus informative wie unterhaltsame Einführungsvortrag täglich im Festspielhaus. Den bestreitet an jedem Vorstellungstag Wagner-Experte und Direktor des Richard Wagner Museums, Sven Friedrich, zum jeweiligen Stück des Abends. Wer ein Ticket für ein Stück der Bayreuther Festspiele hat, kann übrigens jeden Einführungsvortrag seiner Wahl besuchen. Das ist neu und gut.
Brillante Bühnen-Technik
Kein Detailwissen ist erforderlich, um bei dieser Ring-Inszenierung über die technische Brillanz bei den Bayreuther Festspielen zu staunen. Wie hier mehrstöckige Bühnenkunstwerke sehr lautlos und wie von Geisterhand bewegt herein- oder herunterschweben, aufeinander passen oder wieder verschwinden – das ist große Technikerkunst. Bühnenbauer Andrea Cozzi nutzt alle Möglichkeiten, die der Hügel bietet, zeigt eine üppige Wohnlandschaft der Götter, stellt einen Porsche-SUV in die Garage, mit dem die Riesen vorfahren, um sich ihren „Lohn“ für den Bau von Walhall zu holen. Der Kinderhort Nibelheim besteht aus einem modernen Glaskasten, zu Beginn planscht die fröhliche Kinderschar nicht im Rhein, sondern in einem feschen Pool vor hübscher Landschaft im Sonnenuntergang (siehe Beitragsbild oben, © Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele). Die Umbauten funktionieren fast elegant lautlos.
Die Kostüme von Andy Besuch stehen dem Luxus in nichts nach. Vor allem für die Damen hat sich der Kostümbildner größte Mühe gegeben. Hier glänzt Lady Fricka in funkelnd schwarzem Kostüm, auch Freias Robe ist prächtig anzusehen, wenngleich sie ihr offensichtlich kein Trost ist. Erdas Kleid ist hingegen der Tracht der Dienstmädchen angeglichen, von denen es viele gibt, denn sie müssen ständig aufräumen, wegwischen und Scherben einsammeln, weil der Herrschaft Ordnung herzlich egal ist.
Noch ein Punkt der Verdeutlichung: Es ist nicht nur der kleine Junge, der den „Ring“ verkörpert, zum Hort gehört jetzt auch ein Mädchen – und beide werden mächtig verschreckt durch das destruktive Göttertreiben und die Gier der Riesen.
Begleitet wird das alles erstmals und mit drei Jahren Verspätung durch Pietari Inkinen am Pult des Bayreuther Festspielorchesters. Die Leistung des finnischen Dirigenten ist durchaus hörenswert, wenngleich sie kaum vom Bühnengeschehen weglenkt. Die Musik fließt gemächlich, verlässlich wie der Rhein, ohne Höhepunkte. Das ist noch ein bisschen Vorabend-Modus und darf an den nächsten drei Abenden durchaus ausgebaut werden.
Mehr über den Ring II bei den Bayreuther Festspielen 2023: Hier Walküre und hier Siegfried